Die Multi-Stempelanlage gilt mit ihren Dimensionen, ihren Prüfmöglichkeiten und aufgrund ihres Leistungsvermögens als weltweites Unikat. Bilder: Daimler Truck
Qualitätssicherung

Mercedes-Benz: Prüfanlagen wie eine Multistempelanlage und eine Klimawechselkammer sichern die Qualität

In Wörth am Rhein befindet sich das größte Lkw-Produktionswerk von Mercedes-Benz Trucks und zugleich auch das Entwicklungs- und Versuchszentrum (EVZ) des Unternehmens. Das EVZ ermöglicht die konzentrierte Bündelung von Tests mit schweren Lkw an einem Ort auf insgesamt sechs Indoor-Prüfständen und der Einfahrbahn im direkt angeschlossenen Außenbereich.

Im EVZ sind laut Mercedes-Benz-Truck Prüf- und Evaluierungsprozesse an der Tagesordnung – unabhängig von der Antriebsart der Fahrzeuge. Im Mittelpunkt der Aktivitäten stünde jedoch zunehmend die Spezialisierung auf Testverfahren rund um batterieelektrische und wasserstoffbasierte Lkw-Antriebssysteme.  Der batterieelektrische Mercedes Benz eActros 600 steht aktuell dabei im Fokus, das Fahrzeug wird gerade auf die Serienproduktion vorbereitet.

Die Multi-Stempelanlage

In der sogenannten Multi-Stempelanlage werden Schwingungen, die durch unterschiedliche Fahrbahnoberflächen erzeugt werden, simuliert. Dazu wird ein Kollektiv unterschiedlicher realer Fahrbahnoberflächen auf Basis von konkret vermessenen und im System eingespeicherten Daten erzeugt, das von Autobahnrouten über Landstraßen und Schlaglochstrecken bis zur 100-prozentigen Schlechtwegstrecke reicht. Die Schwingungsanregung der Fahrzeuge erfolgt in Vertikal- und Längsrichtung durch Anregungssignale mit definierter Amplitude und Frequenz.
Oberstes Ziel der Entwickler sei es, in der Multi-Stempelanlage validierte Messergebnisse und reproduzierbare Schwingungs- und Resonanzanalysen von Gesamtfahrzeugen zu erhalten. Unabhängig von der Antriebsvariante können das Schwingungs- und Beschleunigungsverhalten einzelner Fahrzeugkomponenten und Bauteilgruppen überprüft und ausgewertet werden. Dabei werden das Verhalten von Rahmen und Aufbauten bei unterschiedlichen Anregungsfrequenzen und die Auswirkungen auf den Fahrkomfort gemessen und bewertet. Die stabile Montage von beispielsweise Lagern und Dämpfern sowie die Auswirkungen von deren Schwingungsverhalten auf andere Fahrzeugkomponenten zählen ebenso zum Inhalt der möglichen Prüfumfänge in der Multi-Stempelanlage wie die Identifikation von Eng- und Scheuerstellen, zum Beispiel bei Kabel- und Rohrführungen.
Im Übrigen:
Je nach Umfang dauert die Untersuchung des Schwingungs- und Resonanzverhaltens des Gesamtfahrzeugs oder einzelner Baugruppen zwischen acht und 14 Tagen.

Aufbau und Funktion

Die Zylinder der Multistempelanlage lassen sich einzeln ansteuern. Die Anlage ermöglicht die Messung, Untersuchung und Analyse des Schwingverhaltens von Gesamtfahrzeugen mit bis zu fünf Achsen und einer Gesamtlänge von maximal 20 Metern.

Die Multi-Stempelanlage gilt mit ihren Dimensionen und Prüfmöglichkeiten als Unikat. Sie bildet einen Verbund aus zehn längs und zehn vertikal auf einem innovativen Schwingfundament installierten Hydraulikzylindern, die das aufgespannte Fahrzeug gezielt in Schwingung versetzen. Je ein vertikal und ein in Längsrichtung wirkender Zylinder sind pro Rad sowie, bei doppelt bereiften Achsen, pro Radpaar verbaut.
Das Schwingfundament ist auf einem Betonfundament gelagert und wird vor Beginn jedes Schwingungstests über Luftfedern angehoben und von der Umgebung entkoppelt. Dadurch wird verhindert, dass sich die während des Testablaufs erzeugten Schwingungen und Vibrationen auf das Prüfstandsgebäude übertragen. Betrieben wird die Multi-Stempelanlage durch ein Zentralhydraulik-Aggregat, bestehend aus acht Pumpen, mit einem Öldruck von 280 bar. Jeder Zylinder verfügt über ein Belastungslimit von acht Tonnen.
Die Zylinder lassen sich einzeln steuern. Die Multi-Stempelanlage ermöglicht somit die Messung, Untersuchung und Analyse des Schwingverhaltens von Gesamtfahrzeugen mit bis zu fünf Achsen und einer Gesamtlänge von maximal 20 Metern. Die Spurweite ist variabel – sie lässt sich stufenlos von 1,77 Metern bis 2,06 Metern einstellen. Fahrzeuge können in dieser Anlage zusammen mit Aufliegern oder Anhängern bis zu einer Breite von 2,50 Metern, einer Höhe von maximal 5,30 Metern, einer Radlast von maximal acht Tonnen und einem maximalen Gesamtgewicht bis 60 Tonnen getestet werden.

Die Klimawechselkammer

Auch die Klimawechselkammer im Wörther EVZ ist von Anfang an auf ihren Einsatz für Elektro- und Wasserstoff-Fahrzeuge hin ausgelegt worden. Der Vorteil: Im Gegensatz zu realen Vor-Ort-Tests beispielsweise in Finnland oder Spanien lassen sich in der Klimawechselkammer die simulierten Klimaverhältnisse unter vergleichbaren Rahmenbedingungen während des ganzen Jahres flexibel darstellen.
Die Kammer arbeitet im Temperaturbereich von -40°C bis +70°C. Neben der Temperatur- verfügt sie auch über eine Feuchtigkeitsregelung, mit der sich unterschiedliche Feuchtigkeitsstufen bis zu 100 Prozent bedarfsgerecht innerhalb der physikalischen Möglichkeiten einstellen lassen. Der Temperaturänderungskoeffizient für die Temperatureinstellungen und Feuchtebestimmungen liegt bei 1,0 Kelvin bzw. einem Grad Celsius pro Minute, wodurch sich die gewünschten Werte punktgenau festlegen lassen. So können technische Neuheiten sowie mechanische, elektrische und Komfort-Funktionen wie Klimaanlagen sowohl für konventionelle wie auch für alternative Antriebe unter arktischen bis hin zu subtropischen Klimabedingungen getestet werden.

Zwei Sattelzugmaschinen finden Platz

In der Klimawechselkammer in Wörth können Temperaturen von -30 Grad bis +70 Grad simuliert werden.

Zwei Sattelzugmaschinen finden in der Klimawechselkammer Platz. In ihr wird die Funktion unterschiedlichster Systeme umfassend auf ihr Verhalten bei wechselnden Temperaturen und Feuchtigkeitszuständen getestet. Die Optimierung des Kaltstartverhaltens von Verbrenner- und Elektrofahrzeugen ist dabei eine wichtige Komponente. Bei E-Lkw werden vor allem das Batteriemanagement und der Batterieladestand (SoC) getestet.
Die Fahrerhausklimatisierung wird ebenso in der Klimawechselkammer geprüft wie der Zustand und die Effizienz der verwendeten Kälte- und Hitzeisolierung. Darüber hinaus werden Funktionstests mit mechanischen und elektrischen Komponenten wie Lenkung, Kippzylinder und Vorbauklappe unter unterschiedlichen Klimabedingungen durchgeführt. Spezielle Lkw-Sonderausstattungen für Einsätze in nordischen Ländern werden ebenfalls intensiven Prüfverfahren auf ihre einwandfreie Funktion bei arktischer Kälte hin unterzogen.

Schutz und Sicherheit bei extremer Hitze und Kälte

Für Testläufe ist die Klimawechselkammer als Sicherheits-Feature mit einer Abgas-Entlüftungsanlage sowie einer Gaswarnanlage für den Fall eines Austritts von Kohlenmonoxid, Wasserstoff oder Methan ausgestattet. Optische und akustische Warnsysteme fordern bei drohender Gefahr in drei Stufen zum sofortigen Verlassen der Klimawechselkammer auf. Das Warnsystem ist darüber hinaus direkt mit der Werkfeuerwehr verbunden.
Zu den Sicherheitsmaßnahmen zählt auch, dass die Leitstelle während eines laufenden Testverfahrens besetzt sein muss, wenn sich Personal in der Kammer aufhält. Es gelten strenge Zugangsbestimmungen, und der Innenraum der Klimawechselkammer wird permanent mit Kameras überwacht: In der Kammer darf sich kein Mitarbeiter allein und ohne angepasste Schutzkleidung aufhalten. Es sind immer zwei Mitarbeiter anwesend, ab -25°C ist der Aufenthalt nur mit einer ärztlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung möglich. Ab +50°C darf sich kein Mitarbeiter mehr innerhalb der Klimawechselkammer aufhalten.

Tests unter Realbedingungen

Die auf den Prüfanlagen in Wörth unter Laborbedingungen erzielten Testergebnisse werden permanent mit den Resultaten, die sich bei den oft wochenlangen Testfahrten auf europaweiten Outdoor-Prüfstrecken unter zumeist extremen Realbedingungen ergeben, vor Ort auf Reproduzierbarkeit hin überprüft und abgeglichen. Dabei kommt auch der Einfluss von Faktoren wie vereiste oder durch Hitzeeinwirkung aufgeweichte Fahrbahnzustände, Sonneneinstrahlung sowie Licht- und Windverhältnisse zum Tragen, die unter stationären Prüfbedingungen nicht darstellbar sind. Zu diesen Tests zählen beispielsweise Prüfstrecken in Regionen wie dem im Winter extrem kalten finnischen Rovaniemi am Polarkreis (Wintertests) oder der im Sommer extrem heißen Sierra Nevada im südspanischen Andalusien (Sommertests). Die Funktionen der einzelnen Betriebs- und Batteriesysteme werden dadurch umfassend geprüft, abgesichert und optimiert.